Foodreport 2023 – Hanni Rützler war in der Stadt

Magazin

Zum zehnten Mal legt die österreichische Trendforscherin Hanni Rützler ihren aktuellen Report über Ernährungstrends vor, zum zweiten Mal fand die Präsentation für die Schweiz im Zeichen von Soil to Soul statt, mit dem Papiersaal im Zürcher Sihlcity als Schauplatz. Zahlreiche Gastro- und Kulinarik-Expert:innen freuten sich über hochwertigen Input.

Wenn eines klar wird anhand von Hanni Rützlers neustem Werk, dann dies: Die Lebensmittelbranche ist reich an komplexen Fragestellungen und an Trends, die durchaus gegenläufig sein können. Das hat damit zu tun, dass der Mensch selbst kein widerspruchsfreies Wesen ist – wir wollen alle gern den Planeten für kommende Generationen bewahren, aber Bequemlichkeit und genussvolle Ernährung sind uns nun mal auch wichtig.

Der Handel ist wichtigster Player
Die in Wien tätige Beobachterin von Zeitgeist und Märkten widmete sich nur kurz dem Blick zurück auf die ersten zehn Jahre ihrer Tätigkeit in der Trendforschung. Viel zu schnell stürmt die Entwicklung in der Lebensmittelbranche voran, als dass man sich lange mit der Vergangenheit aufhalten könnte. Sichtbar und grundlegend verändert haben sich allerdings in relativ kurzer Zeit die Machtverhältnisse in den Wertschöpfungsketten: War einst der Besitzer von Grund und Boden der Mensch mit dem meisten Einfluss auf die menschliche Ernährung, verschob sich diese Machtposition später in die Lebensmittel herstellende Industrie. Und heute? Hanni Rützler hält im Hinblick auf das kommende Jahr fest, dass der Handel, also die Supermärkte, zum wichtigsten Player avanciert sind. Sie nehmen mit feinstem Sensorium wahr, welche Trends für uns Konsument:innen von Bedeutung sind und testen die Produkte einer Unzahl von Startups auf ihre Tauglichkeit am realen Markt. Der Handel ist dabei fein raus – er kann vorgeben, seine Verantwortung für die Umwelt wahrzunehmen und sich gleichzeitig kund:innenfreundlich zeigen. Einschränkung: Weil im Handel eine brutale Konkurrenz herrscht, gehen wirklich wichtige Entwicklungen (z.B. Verzicht auf Single-Use-Plastik) oft unnötig lang, derweil die Politik sich nicht zuständig fühlt und die Eigenverantwortung der Akteur:innen anmahnt.

Traditionelle Rezepte werden vegan
Ein Hersteller wie Planted, vor wenigen Jahren als Ableger der ETH in Zürich gestartet, wäre beispielsweise ohne die Zusammenarbeit mit den Schweizer Grossverteilern nie so rasch gewachsen, wie das der Fall ist. Anteile an der Firma Planted sind heute eine begehrte Investition; eine grosse Crew produziert das auf Erbsenproteinen basierende Pouletfleisch-Imitat im Kemptthaler Lebensmittelcluster «The Valley».
Dank Produkten wie Planted oder dem umfassenden Fleischersatz-Sortiment Green Mountain können Schweizer Famiien- und Profi-Köch:innen ihre Gerichte vollkommen ohne Fleisch zubereiten. «Veganizing Recipes» ist damit einer der ersten wichtigen Trends, auf die Hanni Rützler in ihrer Präsentation konkret einging. Heisst also: Anstatt Zürcher Geschnetzeltes mit Pouletfleisch gibt es in einer wachsenden Anzahl Gemeinschaftsverpflegungs-Stätten halt das entsprechende Gericht mit Planted Chicken. Dass im Zug dieser Veganization der Terroir-Charakter zahlreicher Zutaten wegfällt und man anstelle mit dem Produkt eines lokalen Bauern mit einem gesichtslosen Marketingkonzept kocht, scheint derzeit niemanden gross zu stören.
Im Gegenzug zum industriellen Charakter von Planted ortet Hanni Rützler in Regenerative Food einen kleinen Gegentrend – hier stehe «die Regeneration des Bodens und die Diversität im Mittelpunkt» und diese Art der Produktion sei der nächste Schritt der Agrarwirtschaft, um den Planeten wieder gesünder zu gestalten. Derzeit ist Regenerative Food noch eine Sache der Spitzengastronomie, aber wir kennen die Abläufe: Was dort Erfolg hat, bildet sich in vielen Fällen wenige Jahre später zumindest in den Märkten für eine gehobene Schicht von Konsument:innen ab.

New Glocal – Nachschubketten werden kürzer
Hanni Rützler kennt ihre Grenzen und weiss, dass die Auswirkungen des seit drei Monaten andauernden Krieges in der Ukraine noch längst nicht abschätzbar sind. Dass Lieferketten gespannt oder bereits gerissen sind, zeichnete sich noch während der beiden bleiernen Corona-Jahre ab und floss in ihren Report ein. Tatsächlich fehlen allenthalben Produktionskapazitäten für komplexe Güter (wie Glas) oder Personal (in der Gastronomie), in besonders üblen Fällen kommen knappe Kapazitäten mit fehlenden Arbeitskräften zusammen und lassen die Preise für allerhand Produkte rasch ansteigen. All dies hat zur Folge, dass die lokale Herstellung gewisser Güter sich wieder lohnt. New Glocal nennt Rützler den dazu passenden Trend und sieht am Horizont eine weltweite Neuordnung des Lebensmittelhandels.

Fleisch aus dem Labor wird Wirklichkeit
Mit einem weiteren Blick auf die Weltkarte führte Hanni Rützler aus, dass mittlerweile fast 100 Startups daran sind, Fleisch unter Laborbedingungen zu züchten, um tierleidfreie Steaks auf den Markt zu bringen. Grosse Mengen Geldes werden in diese Entwicklung investiert. Es wird wohl tatsächlich so sein, dass in der näheren Zukunft Fleisch aus dem Bioreaktor auf dem Markt erhältlich sein wird. Brauchen wir das? Wie die Trendforscherin richtig sagte, und wir uns täglich in Erinnerung rufen sollten, benötigen wir keinesfalls so grosse Mengen an Protein, wie sie die Industrie uns zur Verfügung stellen möchte. Der Sinn davon, in der israelischen Wüste Fleischfabriken aufzustellen, braucht sich demnach niemandem zu erschliessen. Aber wie sagte schon Jules Verne: Was jemand erträumen kann, wird irgendwann gemacht. Fleisch wird also zumindest teilweise von Maschinen hergestellt werden; parallel dazu werden Gourmets und Idealisten weiterhin mit noch mehr Leidenschaft darauf achten, dass das von ihnen verspiesene Fleisch von Tieren stammt, die artgerecht lebten und ohne unnötiges Leid getötet wurden.

Viel mehr Details im neuen Report
Wer sich für Trends und anstehende Probleme in der Welt der Lebensmittel interessiert, sollte Hanni Rützler und ihre Arbeit kennen. Den aktuellen Report für das kommende Jahr und natürlich auch alle Back-Issues kann man auf ihrer Webseite bestellen.